Kant und Hegel sowie Quanten und Gravitation

Das letzte, das zwanzigste Jahrhundert brachte uns bahnbrechende Erkenntnisse über die Natur. Quantenphysik mit ihrer Verlängerung in der Quantenfeldtheorie (der Quantenphysik der Elementarteilchen) sowie relativistische Mechanik mit ihrem Abschluss in der allgemeinen Relativitätstheorie kennt jeder - dem Namen nach. So bahnbrechend diese Theorien sind, so wenig sind sie allgemein verstanden. Offensichtlich müssen wir mit intuitiven Vorstellungen brechen oder weitere entwickeln, um diese Physik zu verstehen.

Da fragt sich, in wie weit Immanuel Kant (22. April 1724 bis 12. Februar 1804) und Georg Friedrich Wilhelm Hegel (27. August 1770 bis 14. November 1831) einem dabei auf die Sprünge helfen können. Es klingt verrückt. Eine Wissenschaft wie die Physik, die sich mit der Welt außerhalb des Menschen beschäftigt, soll ihren Grund in den Philosophen des objektiven Idealismus suchen. Bei Kant und Hegel. Zurück ins 18. und 19. Jahrhundert? Mal sehen was möglich ist.

Weit entwickelte, wenig verstandene Physik

Das Verhältnis zwischen Teiltheorien der Physik wie Mechanik, Elektrodynamik, Relativitätstheorie, Thermodynamik konnte als einigermaßen geklärt gelten. Das Verhältnis von Mechanik (wie Elektrodynamik) und Quantenmechanik ist mathematisch formuliert, verstanden scheint es nicht zu sein. Das zeigen nicht enden wollende Debatten. Das Verhältnis zwischen Quantenmechanik und Allgemeiner Relativitätstheorie ist nicht einmal mathematisch formuliert und noch weniger verstanden.

Notwendigkeit und Zufall

Obwohl präziseste Messergebnisse die Quantenmechhanik bestätigen, macht vorrangig der sie beherrschende Zufall vielen Natur- und Geisteswissenschaftern Schwierigkeiten. Kann die Natur durch ein Verhältnnis von Bestimmtheit (Determiniertheit) und Unbestimmtheit (Zufall) gekennzeichnet sein? Wir landen bei den Kategorien "Modalität" und "Relation" von Kant. Eigentlich reicht die Debatte mindestens bis ins klassiche Altertum zurück. Die Stoa als Vertreter eines harten Determinismus wie eines auf ewig wohlgeordnenten Kosmos  lag mit den Epikureern im Klinsch, weil letztere sich die verändernde Welt nur durch Zufallsbwegungen erklären konnten. Es scheint so, dass im Laufe der Zeit, sagen wir seit dem Stoiker und Platoniker Cicero die Gedanken Epikurs in der Philosophie nur eine untergeordnete Rolle spielten. In der besten aller möglichen Welten stecken Plan und Ziel Gottes in einzenen Objekten, versteckt als Monaden. Aber immerhin, die Momente "Möglichkeit" und "Wirklichkeit" der Kategorie Modalität geben der Debatte einen Rahmen, wie auch die Momente "Inhärenz" (das dem Einzelnen charakteristische) und "Gemeinschaft" (das alles Verbindende) der Kategorie Relation.

Teil und Ganzes

Es gibt die Sicht auf die Welt von einzelnen Objekten, die aufeinander wirken können - aber nur wenn die Wirkung sie erreicht, maximal mit Lichtgeschwindigkeit. Diese Sichtweise reicht nicht. Verschränkte Zustände sind über riesige Entfernungen zu beobachten. Sie haben mit Wirkungen wenig zu tun (deshalb handelt es sich auch nicht um "spukhafte Fernwirkungen", wie Einstein meinte). Hier geben Kants Kategorien einen Rahmen für die verständlich Klärung des Sachverhalts. Es sind "Quantität" mit den Momenten "Einheit" (Einzelnes) und "Allheit" (Ganzes) wie auch die Kategorie der Relation. Die Kategorie der Qualität mit ihren Momenten "Realität" und "Limitation" vermittelt über die "Negation" ist in diesem Zusammenhang erst einmal unverständlich. Vielleicht hilft uns da Hegel weiter. Der Rahmen, den Kant zur Verfügung stellt kann nicht mit Kant, sondern nur mit den Methoden der Physik gefüllt werden: Einbettung in bestehende Theorien oder deren Erweiterung sowie Prüfung durch das Experiment.

Form (Raum und Zeit) und Materie

Mit Mechanik und Relativitätstheorie treten die Fragen von Raum und Zeit ins Zentrum. Kant behandelt Raum und Zeit als grundlegende Anschaungsformen. Bei Kant stehen die Kategorien und die Anschauungsformen nebeneinander. Das hat leichte (nicht tiefsinnige) Ähnlichkeiten mit dem Nebeneinander von Quantisierung der Materie, wo uns die Kategorien einen Rahmen bilden und der Raum-Zeit der Relativitätstheorie.

Kants Antinomien und Widersprüche der Natur

Die physikalische Kosmolgie kann weder die Endlichkeit noch die Unendlichkeit der Welt beweisen. Der Teil ist nicht vom Ganzen zu lösen, wie die alle Diskussionen der Quantenmechanik vermuten lassen. Wie die Übergänge zwischen Freiheit (als bewusstem, nicht allein von außen bestimmten Willen) und Notwendigkeit liegen ist gegenwärtig äußerst umstritten. Dass die Natur sich aus dem Widerspruch von Zufall und Notwendigkeit entwickelt, wird zumindest für die "unbelebte" Natur bestritten.

4 Antinomien der Vernunft

Die Systematisierung der Philosophie und logisches Urteilen führt Kant in seiner "Kritik der reinen Vernunft" auf folgende Formulierung von vier Antinomien:.

Begrenztheit und Grenzenlosigkeit

Satz:
Die Welt hat der Zeit und dem Raume nach einen Anfang (Grenze).
Gegensatz:
Die Welt ist der Zeit und dem Raum nach unendlich.

Teil und Ganzes

Satz:
Alles in der Welt besteht aus dem Einfachen.
Gegensatz:
Es ist nichts Einfaches, sondern alles ist zusammengesetzt.

Freiheit und Natur

Satz:
Es giebt in der Welt Ursachen durch Freiheit.
Gegensatz:
Es ist keine Freiheit, sondern alles ist Natur.

Notwendigkeit und Zufall

Satz:
In der Reihe der Weltursachen ist irgend ein nothwendig Wesen.
Gegensatz:
Es ist in ihr nichts nothwendig, sondern in dieser Reihe ist alles zufällig.

 

Widersprüche der Natur

Menschen drängen danach, diese Widersprüche zu lösen. Das treibt sie zu Wissenschaft und Forschung, ohne dass sie die Widersprüche auflösen können. So sieht es Kant. Hegel kann sich damit nicht abfinden und geht den Weg, die Kategorien aus der Entwicklung des reinen Seins und seines Gegenteils des Nichts zu entfalten. Seine Methode ist die Behandlung von Widersprüchen um sie in (logischen) Schritten der Negation zu bewegen. In dem Maße wie die Naturwissenschaften einschließlich der Physik Wissenschaften der Veränderung und nicht der unveränderlichen Strukturen geworden sind, erscheint die Heglesche Methode des Denkens und Erkennens vielversprechender als Kants saubere aber statische Strukturierung des Denkens und Erkennens.

Kant hält an der Trennung von Geist und nicht menschlicher Welt (Natur) fest. Wenn auch nur in einem ganz unkonkreten "Ding an sich". Hegel kennt nur Geist. Zwar kennt er auch Natur als dem Geist äußerlich, Natur ist durchdrungen von Geist. Bei Hegels Euphorie, das Absolute durch immer weiter getriebenes Negieren des Konkreten zum Absoluten erkennen zu können, geht veloren, dass die Welt ganz schön groß und vielfältig ist und selbst in allen Köpfen der Menscheit keinen Platz finden kann.

Raum, Zeit und Materie

Wie schon gesagt sind Raum und Zeit von vorneherein (a priori) gegebene Anschauungsformen bei Kant. Sie sind nicht leer - wie bei Newton, sondern stellen Abstraktionen von Verhältnissen oder Relationen materieller Entitäten dar. Das sagt Hegel auch. Er setzt Raum und Zeit nicht voraus. Er leitet das Verhältnis von Raum, Zeit und Materie aus den den Abstrakta innewohnenden Widersprüchen ab.

Spezielle und Allgemeine Relativitätstheorie haben das traditionelle Verständnis von Raum, Zeit und (gravitierender) Materie ins Wanken gebracht oder weiterentwickelt - je nach dem, wie man es sehen mag. An Hand von Hegels logischer Entwicklung dieses Verhältnisses treffen wir auf Ähnlichkeiten mit der Relativitätstheorie Einsteins. Philosophie und Hegel sind auch ihren Anspruchs nach weit entfernt davon, die Relativitätstheorie aus sich heraus zu entwickeln. Aber es verwundert, dass Hegels gedanklicher Rahmen manches aus Einsteins Theorie kommunizierbar macht. Es verwundert auch, dass Hegels Sinn für Veränderung, das aus der widersprüchlichen Einheit von Sein und Nichts hervorgehende Werden, in Einsteins Allgemeiner Relativitätstheorie angelegt ist. Dabei bedenke man, dass Einstein seine Theorie zunächst ausdrücklich für ein statisches Universum formuliert hat. Heute beschreibt die Komologie das sich entwickelnde Universum großenteils mit der Allgemeinen Relativitätstheorie.

Nicht ganz so alte Bezüge auf Kant und Hegel

Von Weizsäcker

In "Weltbild der Physik" von 1943 bezieht sich Karl Friedrich von Weizsäcker auf Kant. Der Text zeigt, wie von Weizsäcker die Quantenmechanik in sein Verständnis der Erkenntnistheorie Kants einbettet. Nach Aussage des Hirzel Verlages ist es eine der ersten philosophischen Auseinandersetzungen mit der Quantenmechanik.

Havemann

Robert Havemann kramt Hegels Dialektik und die Quantenmechanik in "Dialektik ohne Dogma" 1964 hervor, um der DDR Brigade von verknöcherten "Marxisten-Leninisten" die Leviten zu lesen. "Man muss von der Sache selbst ausgehen, man muss die Natur selbst studieren, man muss konkret ihre Dialektik in ihrer Besonderheit entdecken, noch nicht in ihrer Allgemeinheit." Dieser Satz einer Rede von ihm 1962 (Seite 17) macht Appetit auf die Art und Weise, wie er Quantenmechanik und Gesellschaftstheorie behandelt.

Falkenburg

Brigitte Falkenburgs Promotionsarbeit ist 1987 als Buch "Form der Materie" erschienen. In ihr arbeitet sie sich durch das Verständnis von Raum, Zeit und Materie bei Kant und Hegel. Insbesondere der Teil über Hegel liefert interessante Vorahnungen auf Einsteins Allgemeine Relativitätstheorie. Unabhängig davon dient mir – sicherlich auch anderen – das Buch als Übung für das naturphilosophische Verständnis von Kant und Hegel und deren Art zu denken.